Leseproben Enni Wedekind
Freies Leben
Hallo, was meinst du damit, wenn du sagst, ich habe auf dem Hinterhof einer Kneipe alles gelernt, was man nicht unbedingt mit zehn Jahren lernen sollte? Ich weiß nicht, ob irgendwo geschrieben steht, welche Erfahrungen gut und welche schlecht sind, welche man machen sollte und welche nicht. Was sollte man lernen und was nicht? Manche Erfahrungen sind hart und manche nimmst du noch nicht einmal wahr. Aber alle dienen dazu, dass du so wirst, wie du bist. Anpassung ist das Zauberwort, Freiheit ein noch viel Größeres. Meinst Du, mir hat alles gutgetan, all die Freiheit, die ich hatte? Es war mir freigestellt, ob ich etwas lerne oder nicht, ob ich pünktlich schlafe oder nicht, ob ich nach Hause komme oder nicht, ob ich zur Schule gehe oder nicht! Ob ich esse oder nicht, das entschieden andere Geister. Da war eher maßgebend, ob etwas da war oder nicht. Neu geborene Vögel sitzen in einem Nest, werden gefüttert und gewärmt, bis sie das Fliegen lernen. Dann sind sie frei und stark. Ich war frei, aber stark, na, ich weiß nicht. Manchmal schon und manchmal nicht. Aber fliegen? Nein, da war ich wohl eher der Spatz im Staub der Erde, der aus dem Nest gefallen war. Ich war nackt, ja, bekam weder die innere Wärme noch die äußere. Wurde ich trotzdem stark? Vielleicht nach außen, ja, das habe ich gelernt. Gelernt, wenigstens den Anschein zu geben.
Was denkst du, wie entließ man uns damals in diese gebeutelte Welt? Frei? Nein, mehr stolpernd und fallend statt fliegend. Zu viel Freiheit zur falschen Zeit kann hinderlich sein. Fühlte ich mich frei oder wie fühlte ich mich? Wohl eher wie ein Storch, dem man einen flachen Teller mit Wasser hinstellt und denkt, er kann nun seinen Durst stillen. Das Leben auf dem Kneipenhof war prägend und äußerst interessant. Ein kleines Mädchen, dunkle Haare und dunkle tiefe Augen, auf der Suche nach Liebe will ich es nicht nennen, vielleicht nach Sehnsucht, Aufmerksamkeit und Dazugehörigkeit, inmitten einer rauen Männerlandschaft. Da lernst du tatsächlich eine Menge, was du wissen solltest oder vielleicht auch nicht. Du siehst mehr von den Schwächen der Menschen als von den Stärken. Was habe ich wohl daran gefunden, für eine Mark bis weit nach Mitternacht in der Garderobe der Kneipe zu sitzen und die Mäntel der Gäste zu bewachen? War es die Gier auf die enthemmten Gesichter der Menschen nach Alkohol und engem Tanz? Fühlte ich, dass es etwas gab, was schön und doch teuflisch war, fühlte ich den Trieb verzweifelter Menschen nach Liebe, fühlte ich die Hoffnung? Oder fühlte ich das, was ich nie hatte, was bei meiner Zeugung gefehlt hat? Fühlte ich die Worte, die, obwohl nie gehört, in mir waren? Ich fühlte sie, die Worte, die ich nicht kannte, ja, ich fühlte etwas Geheimnisvolles, etwas Verbotenes und ich genoss die ungetarnte Aufmerksamkeit. Ich dachte, sie galt MIR, aber sie galt nur dem Mädchen in mir.
Oft war ich traurig, aber ich habe selten geweint und mit mir hätte und hat nie jemand geweint. Mir hat ganz selten jemand den Arm um die Schultern gelegt. Zärtliche körperliche Nähe, nein, die habe ich selten bekommen. Und wenn, dann war es oft nicht ehrlich. Vielleicht kann ich es darum bis heute nicht immer ertragen, nur manchmal. Die Enttäuschung ist auch heute noch grenzenlos, wenn das nur einem Zweck, egal welchem, dient. Sehr schmerzhaft wurde mir das irgendwann klar und mein Unterbewusstsein beschloss, ein Junge zu sein. Denen konnte man nicht wehtun, dachte ich wohl, die sind stark und werden nicht so angesehen. Ich wusste es nicht besser. Also zog ich mich wie ein Junge an, teils zur Freude meiner Mutter – trug ich doch die Sachen meines Bruders auf. Es dauerte auch nicht lange, da war ich mehr Junge als er. Und es dauerte auch nicht lange, da war ich in der Straßenclique und in der Schule bedingungslos bei den Jungs akzeptiert. Einige Mutproben gingen dem allerdings voraus. Im Sturm auf den höchsten Baum klettern, Frösche anfassen, Spinnen auf dem Arm krabbeln lassen, nicht quieken, wenn man eine Maus sieht, eine Zigarette rauchen und ganz wichtig, Ideen zu Spielen und Streichen entwickeln. Und da war ich gut, besonders gut. Oh ja, ich lernte beizeiten, meine Angst zu unterdrücken, sie nicht zu zeigen. Das wäre als Schwäche ausgelegt worden, und schwach sein, das konnte ich mir nicht erlauben. Das war ich auch nicht. Du fragst, wie ich mit der ganzen Freiheit umgegangen bin, was ich gemacht habe und wie ich es heute beschreiben könnte? Wenn ein Mädchen, das kein Mädchen sein will, ein Kind, viel Freiheit hat, ist das vor allem erst einmal schön. Andere mussten heim, wenn es gerade Spaß machte, oder durften manchmal nicht raus. Dass das auch die Sorge um die Kinder war, wurde mir erst viel später klar. Ha, ich genoss die Freiheit. Kennst Du das Gefühl, wenn man im Sturm hoch oben in einem Baumwipfel sitzt und hin und her geschaukelt wird? Unbeschreiblich, sag ich dir. Rings um dich rauscht und knackt es, als ob der Wald dir etwas erzählen will. Die Wipfel neigen sich im Wind, aber sie brechen nicht. Weht er schwächer, richten sie sich wieder auf. Du fühlst eine Stärke und einen Widerstand, der dein Gehirn freischüttelt. Die Bedeutung „hoch hinaus“ bekam für mich erst viel später einen anderen Sinn. Wenn der Wunsch nach Selbstverwirklichung und naiv geäußerten Träumen oder Vorstellungen hämisch abgetan werden. Wenn dir der Erfolg, noch bevor er überhaupt in Sichtweite ist, abgesprochen wird. Wenn man sich nicht hintenanstellt und den Versuch unternimmt etwas zu leisten, etwas zu können, dann hat man von dir das „Hoch-hinaus Bild“. Dabei bist du eigentlich froh, dass du bei deiner eigenen Gratwanderung nicht abstürzt. Ich behaupte ja nicht, DASS ich etwas kann, aber ich hatte und habe den Mut, es zu versuchen. Ob mit oder ohne Erfolg, egal, das liegt sowieso in der Betrachtungsweise des Umfeldes. Hoch hinaus – hatte für mich etwas mit Freiheit, Leben, Unendlichkeit zu tun.
Du, das ist genau so, als wenn die Freude oder der Stolz über irgendetwas als Angeberei gewertet wird. Der Mensch vom niederen Stand soll nun mal in anderen Augen funktionieren und hofieren, vielleicht die Steigbügel halten, aber wehe, ihm gelingt auch mal etwas. Dann hat er schön im Schatten am Boden zu bleiben, gerade wenn er geboren ist als Schattenkind. Alles richtig, aber das hatte ich nicht vor! Ich wollte Licht wie eine Blume, die nur gedeihen kann, wenn sie sich immer zum Licht drehen kann. Der Mensch, um dessen Licht sich alles dreht, wie bei einer Lampe, um die Motten und Falter schwirren, nein, der wollte ich nicht sein. Aber hinaus aus dem Schatten, ja, das wollte ich. Ich versuchte es jedenfalls. Und alles unbewusst.
Du wirst einfach gewogen oder aufgewogen und eine Unze mehr wirft man für dich nicht in die Waagschale. Einmal für zu leicht befunden, hast du es schwer, an Gewicht zuzulegen. Du wirst gezählt wie ene mene muh … und raus bist du. Auch dabei kann man schummeln – wenn man schnell genug zählt. Und raus biste, ausgezählt, aufgewogen und für die Zeit eingeteilt, die für dich übrig ist. Mal waren es Tage und Monate, zum Schluss sind es nicht einmal Sekunden. Ich gehörte zu den Jungs, ich wollte ja kein Mädchen sein. Mein Gott, was habe ich nicht alles angestellt, um diesem Status gerecht zu werden.
Ja, du fragst, wovon wir gelebt haben? Das frage ich mich heute auch manchmal. Einhundertfünfzig Ostmark Fürsorge gab es für uns drei pro Monat. Reichte natürlich hinten und vorn nicht. Das Ausflugslokal, hinter dem wir wohnten, lag mitten im Wald. Alles was der Wald bot, wurde gesammelt, Beeren, Pilze, ohhh, Steinpilze geschmort über Salzkartoffeln, das war ein Festessen. Da lag kein Steak drunter, das wurde so gegessen und das würde mir heute noch so schmecken. Den ganzen Sommer wurde Holz gesammelt. Wenn zu wenig am Boden lag, wurden Knüppel hoch zu den Baumkronen geworfen, um trockene Äste abzuschlagen.
An eine Szene kann ich mich erinnern, als wir mit unserem klapprigen Handkarren in die Stadtfichten, einem Wald am Rande der Stadt, gingen. Das aber später. Und wir waren keine Arbeiterkinder. In irgendwelchen Papieren stand der Vater meines Bruders, der auch bei mir als VATER stand, vor dem Krieg als selbstständig. Das bedeutete keine Unterstützung, kein Stipendium, allenfalls im niedrigsten Bereich. Keine selbst gewählte Berufswahl. Bewähren in der Produktion war angesagt. Umerziehung sollte das sein. Dabei waren wir doch alle gleich, die Arbeiter- und Bauernkinder und WIR, nein, da irre ich mich. Die Bauernkinder hatten immer etwas zu essen, die Arbeiterkinder nicht und wir, der Rest, hatten den Stolz, anders zu sein, anders sein zu müssen. Aber davon wurden wir nicht satt, weder im Bauch noch im Geist. Wir hatten nichts zu beanspruchen. Wir hatten einen Status, ja, einen Status, der uns gleichermaßen erhob und erniedrigte. Ja, du hörst richtig. Wie hatten den Beweis zu erbringen, dass wir einen Stellenwert in der sozialistischen Produktion erreichen können. Wieder ausgesucht und für zu leicht befunden. Das sind Demütigungen und von allererster Sahne. Einer der vielen Gründe, dass ich gegen jede Art von Demütigung, auch heute noch, immer ziemlich allergisch reagiere. Wahrscheinlich.
Also du siehst, trotz allem nicht frei, trotz allem oder gerade deswegen nicht mit der Realität, dem praktiziertem Sozialismus, konform. Vielleicht wären wir anders geworden ohne diese Klassifizierung oder besser gesagt, Ent-Klassifizierung! Der Wille zum Widerstand gegen Ungerechtigkeit wurde dadurch doch gestärkt oder auch erst geboren. Frag mal einen Menschen, wenn er Hunger hat, ob das sich anders anfühlt, ob er nun ein Arbeiter- oder ein anderes Kind ist. Die Freiheit hat ihren Preis, sagt man. Ja, ich zahlte ihn. Heute würde ich sagen, Freiheit bezieht sich auf sehr viele Gebiete im menschlichen Dasein. Sie ist erstrebenswert, aber nicht jede Freiheit ist begehrenswert. Sie kann auch schutzlos machen. Beschützen heißt einengen, meinst du? Ja, eingeengt wurde ich nicht oder vielleicht doch viel mehr, als ich es empfand. Ich hätte wohl ein bisschen Freiheit geopfert für etwas mehr Schutz, vielleicht meine ich auch ein bisschen mehr Liebe, Geborgenheit, denke ich. Diese Art von Freiheit, in den Wäldern umherstreifen, stundenlang Rehe und Füchse beobachten, an allen Orten sein zu können, die anderen Kindern tabu waren, verkleidet als Indianer oder als Pirat zur Schule zu gehen, polarisieren, und das sehr gern, später grundsätzlich mit Lederhosen und Jungenhemden gehen, war ja noch ungefährlich...
Enni Wedekind
Gedichte ( Vorlagen für Songtexte )
ABRECHNUNG
SIEH MICH NICHT SO AN
ALS KENNST DU MICH NICHT
ICH BIN ES - STEHE SEIT JAHREN NEBEN DIR
UND STAND OFT NEBEN MIR
DIE ZEIT IST VORBEI,
IN DER ICH WOLLTE ICH WÄRE NICHT ICH
DIE ZEIT IST VORBEI
IN DER ICH GLAUBTE DAS LEBEN LIEBT MICH NICHT
ICH BIN ES UND ICH BIN ICH
ENDLICH WEISS ICH DAS
UND ES MACHT SPASS
NICHTS WAS WAR IST VERTAN
DENN ICH HABE ALLES FÜR MICH GETAN
UND ICH BIN NICHT MEHR ALLEIN
ICH BIN ICH - DENN ICH HABE FÜR IMMER ...MICH
DU HAST MICH IM ABSEITS STEHEN LASSEN
DU HAST ALLES GETAN UM DICH ZU HASSEN
DU HAST DIE SONNE FÜR DICH GESUCHT
ICH HAB DEN SCHATTEN VERFLUCHT
HAST MIT DIR ALLEIN GELEBT
NICHT GESEHEN WER NEBEN DIR STEHT
DU HAST MICH GEBRAUCHT
DOCH NUR FÜR DEINE SCHWÄCHEN
DU HAST GEGLAUBT
DAS WIRD SICH NICHT RÄCHEN
DU HAST GEGLAUBT DIE WELT DREHT SICH UM DICH
DABEI DREHTEN ANDERE - SIE NUR FÜR DICH
DU HAST MICH KLEIN GEMACHT
ICH HAB AUCH NOCH GELACHT
HAB NEBENHER GELEBT
UM DEINE LIEBE OFT UMSONST GEFLEHT
DU HAST NUR GELACHT
DENN DU LIEBTEST NUR DEIN LEBEN
DU HAST GEDACHT
DU BRAUCHST NICHTS GEBEN
ALLES IST WIE EIN FLIRT - DU HAST DICH GEIRRT
Enni Wedekind
BETTLER ODER KÖNIG
MEIN LEBEN HAT OFT SICH VERÄNDERT
IST EIN STÄNDIG NEUER FLUSS
MEINE ROLLE WIRD NEU GESCHRIEBEN
ICH KENN DEN SCHMERZ UND DEN GENUSS
MAL GEHT ES RAUF MAL RUNTER
TAUSEND MEILEN HALT ICH SCHRITT
SEHE DIE VIELEN KLEINEN WUNDER
UND ICH NEHME SIE ALLE MIT
DENN ICH LEBE JETZT UND HEUTE
ICH LEBE - VOLL AM LIMIT
ICH LEBE VOLL AM LIMIT
VOLL IM SOLL - EINFACH GENIAL.
VOLLE KRAFT VORAUS - DAS HALTE ICH AUS
ICH BLEIBE VOLL AM BALL
DENN ICH LEBE - VOLL AM LIMIT
BETTLER ODER KÖNIG
DAS IST DOCH GANZ EGAL
DER REST, DER IST ZU WENIG
ERWARTET MAN ZUVIEL
DOCH DIE LIEBE SIE IST EWIG
UND SIE IST FÜR ALLE DA
FÜR DEN BETTLER UND DEN KÖNIG
FÜR DICH UND AUCH FÜR MICH
FÜR UNS ALLE IST SIE DA
DARUM LEBE ICH - JAHR FÜR JAHR
VOLL AM LIMIT
LEBE OFT AM RAND DES WAHNSINNS
ZUCKERWATTE ODER CRASH
IMMER SPAREN- IMMER PLEITE
WER NOCH KANN- ZAHLT LIEBER CASH
DIE UHR TICKT IMMER SCHNELLER
SIE IST DAS MESSER AN DER ZEIT
DOCH JEDEN MORGEN WIRD ES HELLER
UND DARUM HALT ICH WEITER MIT
ICH LEBE JETZT UND HEUTE
ICH LEBE NOCH - VOLL AM LIMIT
Enni Wedekind